Liebe Hörerinnen und Hörer,
Vielleicht sind Sie schon einmal an einem Feiertage in eine französische Kathedrale eingetreten
und erlebten dort jene einzigartige Atmosphäre, welche durch das Zusammentreffen jahrhundertealter
Traditionen mit der lebendigen Gegenwart zustande kommt. Da ist die edle Harmonie des Raumes, die
planvolle Ausgeglichenheit der Architektur, erdacht von Meistern, welche um die überzeitlichen
mathematischen Gesetze der Schönheit wussten. Da ist der gleichsam spürbare Geist jener fernen Generationen, welche hier selbstlos, zur grösseren Ehre Gottes, Stein auf Stein gefügt, unvergängliche Skulpturen schufen, farbig prächtige Fenster brannten, welche jetzt das Licht der Sonne verstreuen. Da ist die gläubige Gemeinde, welche mit den wesentlich gleichen Gebeten und denselben Bitten vor ihren Herrgott tritt wie einstens ihre Vorfahren.
Und da ist, den Raum bis in den letzten Winkel füllend, der grosse Atem der Orgel. Auch sie hat
in Frankreich eine reiche Vergangenheit, auch sie ist dort lebendige Gegenwart.
Obwohl viele herrliche Kathedralen in der französischen Provinz stehen und viele von diesen eine
sehr schöne Orgel beherbergen, welche in manchen Fällen von hervorragenden Meistern gespielt
wurden —wir denken an
Titelouze
in Rouen, an
Grigny
in Reims, an
Jullien
in Chartres— richten wir heute abend unser Augenmerk doch vor allem auf Paris,
das mit seiner geistigen, stets anregenden Ambiance auf Künstler von jeher eine
grosse Anziehungskraft ausgeübt hat. Titular einer Orgel in der Kapitale zu werden
war denn auch der Traum manch eines Organisten, oft jedoch war dessen Erfüllung mit
sehr grossen Schwierigkeiten verbunden.
Jean-Philippe Rameau
zum Beispiel, der als Organist durch einen sehr langfristigen Vertrag an die
Kathedrale von Clermont-Ferrand gebunden war, erreichte das erstrebte Ziel, indem
er während eines grossen Festgottesdienstes, zum Entsetzen der Anwesenden, schrillste
Dissonanzen aneinander reihte, so dass man annehmen musste, der sonst so tüchtige
Mann wäre verrückt geworden. Er wurde daraufhin aus seiner Stelle entlassen und
konnte auf diese Weise unbehelligt nach Paris übersiedeln.
Bedeutend weniger sympathisch benahm sich
Louis Marchand,
wie er versuchte, einen begehrten Organistenposten zu erlangen. Auf sehr rücksichtslose
Art verleumdete er den Inhaber der Stelle, ohne jedoch zum Ziele zu gelangen. Marchand,
ein hochbegabter Spieler und Komponist, dürfte übrigens vielen Musikfreunden kein Unbekannter
sein. Von grillenhafter, wunderlicher Gemütsart, sorglos, verschwenderisch, faden
Schmeicheleien abhold und profane Ohren verachtend, ist er Held vieler Anekdoten.
Die bekannteste ist das nicht zustande gekommene musikalische Duell mit
Johann Sebastian Bach.
Die Vorgeschichte dazu soll sich folgendermassen zugetragen haben: Als Marchand an der
königlichen Schlosskapelle zu Versailles angestellt war, wurde es seine Frau überdrüssig,
zusehen zu müssen, wie er sein ganzes Einkommen verschleuderte. Sie erlangte vom König, dass
ihr die Hälfte seines Honorars ausgehändigt wurde. Um sich zu rächen, brach nun einmal Marchand
sein Spiel mitten im Gottesdienst ab, betonend, dass, wenn Seine Majestät ihm nur die Hälfte seines
Lohnes auszubezahlen für gut befände, Sie sich auch mit der Hälfte seiner Dienstleistung
abzufinden hätte. Auf diese Kühnheit hin wurde er aufgefordert, Hof und Königreich zu
verlassen. Er reiste nach Deutschland, wo französische Musik eben sehr geschätzt wurde.
In Dresden liess er sich mit grossen Erfolg vor dem König hören. Darauf erhielt er eine
schriftliche Einladung, sich mit dem damaligen Hofkompositeur Bach in einem musikalischen
Wettstreit auf dem cembalo zu messen. Marchand nahm die Einladung zwar an, erschien jedoch
zur festgesetzten Stunde nicht, da er es vorgezogen hatte, vorher zu verschwinden. Sicherlich
hatte er sich in der Zwischenzeit von der grossen Kunst Bachs überzeugen können und es für
besser erachtet, einem aussichtslosen Wettkampfe aus dem Wege zu gehen.
Im 17. und 18. Jahrhundert war es in Frankreich besonders in Künstler- und Handwerkerskreisen
gang und gäbe, dass der Sohn in die Fussstapfen des Vaters oder mindestens der Neffe in
diejenigen des Onkels trat. Die Jungen hatten auf diese Weise den Vorteil, in einer
Umgebung und Atmosphäre aufzuwachsen, welche sie auf ganz natürliche Art in die
Geheimnisse ihres späteren Metiers einführte. Man kennt sehr schöne solche Dynastien
bei Malern, Architekten, Orgelbauern, Botanikern, doch das schönste Beispiel ist die Familie
Couperin,
welche wohl nur mit der Familie Bach in Deutschland verglichen werden kann. So mutet
es uns heute in unserer hastigen und unsteten Zeit eigentümlich an, dass die
Organistenstelle an der Saint-Gervais-Kirche während voller 167 Jahren von Gliedern
der Familie Couperin besetzt war. Die Reihe beginnt 1653 und endet, eine einzige
kürzere Unterbrechung aufweisend, im Jahre 1826. Das qualitative Niveau der Couperin
war derart ausgeglichen, und trotz unterschiedlicher Temperamente so einheitlich,
dass selbst die prachtvollen Orgelwerke des berühmtesten der ganzen Dynastie,
François Couperin,
„le Grand“ genannt, bis vor kurzem von der Musikwissenschaft seinem Onkel
zugeschrieben wurden, welcher den gleichen Namen trug.
Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts fand das Volk immer mehr Gefallen an der
Orgel, natürlich nicht zuletzt deswegen, weil sich die meisten Organisten
dem Geschmack des Publikums anzupassen wussten und Stufe um Stufe von der
Höhe ernster, polyphoner und liturgiegebundener Schreib- und Spielweise herabstiegen. Bei
Louis Claude Daquin
wurde der weite Raum des Kirchenschiffes bald zu enge, die grosse Menschenmenge
zu fassen, welche seinen Improvisationen zu lauschen wünschte. Der Lehrer der
Marie-Antoinette,
Claude Balbastre
erlebte eine wenn möglich noch grössere Popularität: Wenn die Leute wussten,
dass er zu Weihnachten in Notre-Dame über volkstümliche Weihnachtslieder
phantasieren würde, stritten sie sich ungeziemlich um die Plätze. Zweimal
sah sich der Erzbischof veranlasst, die Mitternachtsmesse kurzerhand zu
untersagen.
Von hier aus war nur noch ein Schritt bis zum völligen Niedergang wahrer
Orgelkultur. Die leichte Musik, die Opernouvertüre, seichteste Tongemälde
und Naturschilderungen hielten ihren Einzug in die Kirche. Improvisationen
über die tumultiösesten Stellen der heiligen Schrift, namentlich über das
jüngste Gericht, waren an der Tagesordnung. Als dann die Revolution ausbrach,
waren denn die Organisten aufs beste vorbereitet, ihre neue Aufgabe zu
erfüllen, nämlich den Glanz und die Stimmung der republikanischen Feste
mit patriotischen Hymnen, Schlachtensinfonien und Paraphrasen über die
Marseillaise
zu erhöhen. Dank dieser Ausschreitungen ist wenigstens manch herrliche,
alte Orgel vor der Vernichtung bewahrt worden. Noch Jahrzehnte später hatte
sich der Geschmack kaum gebessert, immer wieder wurde von der Orgel Banalitäten
und Trivialitäten verlangt, welche ihrer Natur keineswegs entsprechen.
Ein gewisser Boyer beispielsweise hatte den Einfall, die Wirkung seiner
Gewitter-Improvisation zu erhöhen, indem, auf dem Höhepunkt seines gewaltigen
Crescendos angelangt, eine Knallbüchse abfeuern liess.
Erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts fingen ausgewählte Kreise wieder langsam
an einzusehen, welche Rolle der Kirchenmusik im allgemeinen und der Orgel im
besonderen zukommt.
César Franck,
als Komponist, Improvisator und Lehrer gleichbedeutend, vertraute seinem
geliebten Instrument in der Basilika Sainte-Clothilde seine ergreifendsten
Eingebungen an. So ist es nicht verwunderlich, dass
Franz Liszt,
als er ihn im Jahre 1866 auf seiner Empore aufsuchte, von seiner Kunst so
hingerissen wurde, dass er den bescheidenen, in sich gekehrten Meister mit
Johann Sebastian Bach verglich.
Camille Saint-Saëns,
heute nur mehr als Komponist bekannt, versah damals den Organistendienst in
der Madeleine und improvisierte dort vor allem über grgorianische Themen.
Dass er damit nicht einmal stets in Klerikerkreisen auf Verständnis stiess,
wurde ihm klar, als ihn sein geistlicher Vorgesetzter einmal ersuchte, im
Interesse des vornehmen Publikums, das ja meistens in der Oper abonniert war,
für seine Improvisationen doch auch Motive aus der Oper zu verwenden.
Saint-Saëns erwiderte ihm, er werde seinem Wunsche gerne entsprechen,
jedoch erst vom Augenblicke an, wo er in seinen Predigten auch Stellen
aus Opern-Librettis zitiern würde. Selbstverständlich war er sich voll bewusst,
dass hohe Kunst weniger volkstümlich ist als billige Konzessionen an den
Geschmack des Bürgers, und als er wieder einmal sah, wie die Menge beim
Erklingen einer glänzenden Fuge am Ende der Messe das Gotteshaus fluchtartig
verliess, prägte er folgende humorvolle Definition: Die Fuge ist ein Stück,
das am Schlusse des Gottesdienstes gespielt wird. Dabei treten die Stimmen
nacheinander ein, die Leute aber treten nacheinander hinaus, und sind alle
Stimmen drinnen, so sind auch alle Leute draussen. Einige Dezenien später noch bezeichnet
Joseph Bonnet,
Titular der herrlichen Orgel von Saint-Eustache sein Ausgangsspiel als „concert
de semelles“, als Konzert mit obligatem Schuhsohlengeklapper.
Unbeirrt durch diese augen- und ohrenfällige Verständnislosigkeit des breiten
Volkes schufen Meister wie
Guilmant,
Widor,
Gigout,
Vierne
und
Tournemire
—um nur von den Verstorbenen zu sprechen— eine sehr beachtliche Reihe von Werken,
welche die Zeit überdauern sollten. Sicherlich sind verschiedene unter Ihnen,
liebe Hörerinnen und Hörer, welche die eben genannten noch persönlich gehört haben,
denn der internationale Ruf, den die französische Orgelschule geniesst, führte sie
zu Konzerten und Orgeleinweihungen weit über Frankreichs Grenzen hinaus. Louis
Vierne z.B., von 1900 bis 1937 Organist an der Notre-Dame, spielte in allen Teilen
der Neuen und der Alten Welt, also auch des öftern in der Schweiz, mit welcher
ihn besondere Bande verknüpften. Es ist passionierend, seine Memoiren zu lesen, die er
allerdings unvollständig hinterliess, da ihn der Tod im Jahre 1937 mitten in einem
Konzert in Notre-Dame überraschte, eben als er sich anschickte über das gregorianische
„Alma Redemptoris Mater“ zu improvisieren.
Im gleichen Jahre starb auch Charles-Marie Widor, der während 64 Jahren die Orgel
von Saint-Sulpice spielte. Als fruchtbarer Komponist und ausgezeichneter Lehrer zählt
er unter seine Schüler auch
Albert Schweitzer,
welcher auf seine Anregung hin sein grosses Bach-Buch schrieb. Dass Widor die grosse
Persönlichkeit seines bedeutenden Schülers voll erkannte und würdigte, geht unter
anderem aus einem unveröffentlichten Briefe hervor, in welchem er einem Freunde
Schweitzer beschreibt als Theologen, geistigen Schüler des Heiligen Paulus und
Kants, Philosophen, Arzt, Musiker und „après ou avant moi le plus
classique des organistes...“
Franz Riat