Besinnliches und Heiteres um französische Orgelmeister
Plauderei in Form einer Improvisation

Eine Radiosendung von Franz Riat (1921-1973)

Liebe Hörerinnen und Hörer,

Vielleicht sind Sie schon einmal an einem Feiertage in eine französische Kathedrale eingetreten und erlebten dort jene einzigartige Atmosphäre, welche durch das Zusammentreffen jahrhundertealter Traditionen mit der lebendigen Gegenwart zustande kommt. Da ist die edle Harmonie des Raumes, die planvolle Ausgeglichenheit der Architektur, erdacht von Meistern, welche um die überzeitlichen mathematischen Gesetze der Schönheit wussten. Da ist der gleichsam spürbare Geist jener fernen Generationen, welche hier selbstlos, zur grösseren Ehre Gottes, Stein auf Stein gefügt, unvergängliche Skulpturen schufen, farbig prächtige Fenster brannten, welche jetzt das Licht der Sonne verstreuen. Da ist die gläubige Gemeinde, welche mit den wesentlich gleichen Gebeten und denselben Bitten vor ihren Herrgott tritt wie einstens ihre Vorfahren. Und da ist, den Raum bis in den letzten Winkel füllend, der grosse Atem der Orgel. Auch sie hat in Frankreich eine reiche Vergangenheit, auch sie ist dort lebendige Gegenwart.

       Obwohl viele herrliche Kathedralen in der französischen Provinz stehen und viele von diesen eine sehr schöne Orgel beherbergen, welche in manchen Fällen von hervorragenden Meistern gespielt wurden —wir denken an Titelouze  in Rouen, an Grigny  in Reims, an Jullien  in Chartres— richten wir heute abend unser Augenmerk doch vor allem auf Paris, das mit seiner geistigen, stets anregenden Ambiance auf Künstler von jeher eine grosse Anziehungskraft ausgeübt hat. Titular einer Orgel in der Kapitale zu werden war denn auch der Traum manch eines Organisten, oft jedoch war dessen Erfüllung mit sehr grossen Schwierigkeiten verbunden. Jean-Philippe Rameau  zum Beispiel, der als Organist durch einen sehr langfristigen Vertrag an die Kathedrale von Clermont-Ferrand gebunden war, erreichte das erstrebte Ziel, indem er während eines grossen Festgottesdienstes, zum Entsetzen der Anwesenden, schrillste Dissonanzen aneinander reihte, so dass man annehmen musste, der sonst so tüchtige Mann wäre verrückt geworden. Er wurde daraufhin aus seiner Stelle entlassen und konnte auf diese Weise unbehelligt nach Paris übersiedeln.

       Bedeutend weniger sympathisch benahm sich Louis Marchand,  wie er versuchte, einen begehrten Organistenposten zu erlangen. Auf sehr rücksichtslose Art verleumdete er den Inhaber der Stelle, ohne jedoch zum Ziele zu gelangen. Marchand, ein hochbegabter Spieler und Komponist, dürfte übrigens vielen Musikfreunden kein Unbekannter sein. Von grillenhafter, wunderlicher Gemütsart, sorglos, verschwenderisch, faden Schmeicheleien abhold und profane Ohren verachtend, ist er Held vieler Anekdoten. Die bekannteste ist das nicht zustande gekommene musikalische Duell mit Johann Sebastian Bach.  Die Vorgeschichte dazu soll sich folgendermassen zugetragen haben: Als Marchand an der königlichen Schlosskapelle zu Versailles angestellt war, wurde es seine Frau überdrüssig, zusehen zu müssen, wie er sein ganzes Einkommen verschleuderte. Sie erlangte vom König, dass ihr die Hälfte seines Honorars ausgehändigt wurde. Um sich zu rächen, brach nun einmal Marchand sein Spiel mitten im Gottesdienst ab, betonend, dass, wenn Seine Majestät ihm nur die Hälfte seines Lohnes auszubezahlen für gut befände, Sie sich auch mit der Hälfte seiner Dienstleistung abzufinden hätte. Auf diese Kühnheit hin wurde er aufgefordert, Hof und Königreich zu verlassen. Er reiste nach Deutschland, wo französische Musik eben sehr geschätzt wurde. In Dresden liess er sich mit grossen Erfolg vor dem König hören. Darauf erhielt er eine schriftliche Einladung, sich mit dem damaligen Hofkompositeur Bach in einem musikalischen Wettstreit auf dem cembalo zu messen. Marchand nahm die Einladung zwar an, erschien jedoch zur festgesetzten Stunde nicht, da er es vorgezogen hatte, vorher zu verschwinden. Sicherlich hatte er sich in der Zwischenzeit von der grossen Kunst Bachs überzeugen können und es für besser erachtet, einem aussichtslosen Wettkampfe aus dem Wege zu gehen.

       Im 17. und 18. Jahrhundert war es in Frankreich besonders in Künstler- und Handwerkerskreisen gang und gäbe, dass der Sohn in die Fussstapfen des Vaters oder mindestens der Neffe in diejenigen des Onkels trat. Die Jungen hatten auf diese Weise den Vorteil, in einer Umgebung und Atmosphäre aufzuwachsen, welche sie auf ganz natürliche Art in die Geheimnisse ihres späteren Metiers einführte. Man kennt sehr schöne solche Dynastien bei Malern, Architekten, Orgelbauern, Botanikern, doch das schönste Beispiel ist die Familie Couperin,  welche wohl nur mit der Familie Bach in Deutschland verglichen werden kann. So mutet es uns heute in unserer hastigen und unsteten Zeit eigentümlich an, dass die Organistenstelle an der Saint-Gervais-Kirche während voller 167 Jahren von Gliedern der Familie Couperin besetzt war. Die Reihe beginnt 1653 und endet, eine einzige kürzere Unterbrechung aufweisend, im Jahre 1826. Das qualitative Niveau der Couperin war derart ausgeglichen, und trotz unterschiedlicher Temperamente so einheitlich, dass selbst die prachtvollen Orgelwerke des berühmtesten der ganzen Dynastie, François Couperin,  „le Grand“ genannt, bis vor kurzem von der Musikwissenschaft seinem Onkel zugeschrieben wurden, welcher den gleichen Namen trug.

       Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts fand das Volk immer mehr Gefallen an der Orgel, natürlich nicht zuletzt deswegen, weil sich die meisten Organisten dem Geschmack des Publikums anzupassen wussten und Stufe um Stufe von der Höhe ernster, polyphoner und liturgiegebundener Schreib- und Spielweise herabstiegen. Bei Louis Claude Daquin  wurde der weite Raum des Kirchenschiffes bald zu enge, die grosse Menschenmenge zu fassen, welche seinen Improvisationen zu lauschen wünschte. Der Lehrer der Marie-Antoinette,  Claude Balbastre  erlebte eine wenn möglich noch grössere Popularität: Wenn die Leute wussten, dass er zu Weihnachten in Notre-Dame über volkstümliche Weihnachtslieder phantasieren würde, stritten sie sich ungeziemlich um die Plätze. Zweimal sah sich der Erzbischof veranlasst, die Mitternachtsmesse kurzerhand zu untersagen.

       Von hier aus war nur noch ein Schritt bis zum völligen Niedergang wahrer Orgelkultur. Die leichte Musik, die Opernouvertüre, seichteste Tongemälde und Naturschilderungen hielten ihren Einzug in die Kirche. Improvisationen über die tumultiösesten Stellen der heiligen Schrift, namentlich über das jüngste Gericht, waren an der Tagesordnung. Als dann die Revolution ausbrach, waren denn die Organisten aufs beste vorbereitet, ihre neue Aufgabe zu erfüllen, nämlich den Glanz und die Stimmung der republikanischen Feste mit patriotischen Hymnen, Schlachtensinfonien und Paraphrasen über die Marseillaise  zu erhöhen. Dank dieser Ausschreitungen ist wenigstens manch herrliche, alte Orgel vor der Vernichtung bewahrt worden. Noch Jahrzehnte später hatte sich der Geschmack kaum gebessert, immer wieder wurde von der Orgel Banalitäten und Trivialitäten verlangt, welche ihrer Natur keineswegs entsprechen. Ein gewisser Boyer beispielsweise hatte den Einfall, die Wirkung seiner Gewitter-Improvisation zu erhöhen, indem, auf dem Höhepunkt seines gewaltigen Crescendos angelangt, eine Knallbüchse abfeuern liess.

       Erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts fingen ausgewählte Kreise wieder langsam an einzusehen, welche Rolle der Kirchenmusik im allgemeinen und der Orgel im besonderen zukommt. César Franck,  als Komponist, Improvisator und Lehrer gleichbedeutend, vertraute seinem geliebten Instrument in der Basilika Sainte-Clothilde seine ergreifendsten Eingebungen an. So ist es nicht verwunderlich, dass Franz Liszt,  als er ihn im Jahre 1866 auf seiner Empore aufsuchte, von seiner Kunst so hingerissen wurde, dass er den bescheidenen, in sich gekehrten Meister mit Johann Sebastian Bach verglich. Camille Saint-Saëns,  heute nur mehr als Komponist bekannt, versah damals den Organistendienst in der Madeleine und improvisierte dort vor allem über grgorianische Themen. Dass er damit nicht einmal stets in Klerikerkreisen auf Verständnis stiess, wurde ihm klar, als ihn sein geistlicher Vorgesetzter einmal ersuchte, im Interesse des vornehmen Publikums, das ja meistens in der Oper abonniert war, für seine Improvisationen doch auch Motive aus der Oper zu verwenden. Saint-Saëns erwiderte ihm, er werde seinem Wunsche gerne entsprechen, jedoch erst vom Augenblicke an, wo er in seinen Predigten auch Stellen aus Opern-Librettis zitiern würde. Selbstverständlich war er sich voll bewusst, dass hohe Kunst weniger volkstümlich ist als billige Konzessionen an den Geschmack des Bürgers, und als er wieder einmal sah, wie die Menge beim Erklingen einer glänzenden Fuge am Ende der Messe das Gotteshaus fluchtartig verliess, prägte er folgende humorvolle Definition: Die Fuge ist ein Stück, das am Schlusse des Gottesdienstes gespielt wird. Dabei treten die Stimmen nacheinander ein, die Leute aber treten nacheinander hinaus, und sind alle Stimmen drinnen, so sind auch alle Leute draussen. Einige Dezenien später noch bezeichnet Joseph Bonnet,  Titular der herrlichen Orgel von Saint-Eustache sein Ausgangsspiel als „concert de semelles“, als Konzert mit obligatem Schuhsohlengeklapper.

       Unbeirrt durch diese augen- und ohrenfällige Verständnislosigkeit des breiten Volkes schufen Meister wie Guilmant,  Widor,  Gigout,  Vierne  und Tournemire  —um nur von den Verstorbenen zu sprechen— eine sehr beachtliche Reihe von Werken, welche die Zeit überdauern sollten. Sicherlich sind verschiedene unter Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, welche die eben genannten noch persönlich gehört haben, denn der internationale Ruf, den die französische Orgelschule geniesst, führte sie zu Konzerten und Orgeleinweihungen weit über Frankreichs Grenzen hinaus. Louis Vierne z.B., von 1900 bis 1937 Organist an der Notre-Dame, spielte in allen Teilen der Neuen und der Alten Welt, also auch des öftern in der Schweiz, mit welcher ihn besondere Bande verknüpften. Es ist passionierend, seine Memoiren zu lesen, die er allerdings unvollständig hinterliess, da ihn der Tod im Jahre 1937 mitten in einem Konzert in Notre-Dame überraschte, eben als er sich anschickte über das gregorianische „Alma Redemptoris Mater“ zu improvisieren.

       Im gleichen Jahre starb auch Charles-Marie Widor, der während 64 Jahren die Orgel von Saint-Sulpice spielte. Als fruchtbarer Komponist und ausgezeichneter Lehrer zählt er unter seine Schüler auch Albert Schweitzer,  welcher auf seine Anregung hin sein grosses Bach-Buch schrieb. Dass Widor die grosse Persönlichkeit seines bedeutenden Schülers voll erkannte und würdigte, geht unter anderem aus einem unveröffentlichten Briefe hervor, in welchem er einem Freunde Schweitzer beschreibt als Theologen, geistigen Schüler des Heiligen Paulus und Kants, Philosophen, Arzt, Musiker und „après ou avant moi le plus classique des organistes...“

Franz Riat